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Von der Freude am Fortschritt und der Angst vor der Zukunft

Trotz seiner langjährigen Erfahrung als Diplomat bevorzugt John Kornblum eindeutig Klartext. Der ehemalige US-Botschafter in Deutschland zweifelt an echter Innovationskraft in Deutschland und Europa – auf politischer und technologischer Ebene.

Im Gespräch mit Dietrich Holler bekennt sich der überzeugte Protestant Kornblum zu einer Einteilung der Welt in „gut“ und „böse“.

Herr Kornblum, fangen wir mit einem Vorurteil an: Stimmt das mit der „German Angst“ und denken die Deutschen beim Fortschritt zuerst an „Restrisiko“?

John Kornblum: Ja, das ist so. Interessanterweise steigt in Deutschland, wie in allen wohlständigen Gesellschaften, die Angst, je besser die Menschen leben. Das habe ich zu Beginn meiner Zeit in Deutschland während der 1960er Jahre anders erlebt. Vermutlich ist es so: Je wohlhabender man wird, desto mehr Angst hat man, genau diesen Wohlstand wieder zu verlieren.

Das amerikanische Modell des „wir schaffen das und alles ist möglich“ betrachten Intellektuelle in Deutschland und Europa oftmals als naive Vertröstung auf bessere Zeiten.

Kornblum: Diese Art zu denken wird in Europa nicht nur als naiv, sondern teilweise als gefährlich betrachtet. Um das zu erklären, muss man die zwei Säulen der westlichen Welt – Europa und Nordamerika – analysieren. Das Fundament der europäischen Säule besteht weitgehend aus zweitausend Jahren Krieg, Eroberung, Diktatur und Monarchie. Seit mehr als 1000 Jahren gibt es in Deutschland ein ausgeklügeltes System von Macht und deren Kontrolle. Deswegen ist Europa nach Ansicht einiger Historiker gewisser- maßen in den Ersten Weltkrieg „gestolpert“. Man hielt den Krieg für kontrollierbar.
Amerikaner sind da vollkommen anders. Sie kamen als Einwanderer in einen dünn besiedelten Kontinent. Anfangs bildete in Südamerika die Suche nach Reichtum und Abenteuerlust dafür die Motivation. Später, und hier wiederum in Nordamerika, geschah es auch aus Überzeugung. Die Einwanderer mussten oder wollten die alten Systeme, primär in Europa, hinter sich lassen. Nordamerika hat deshalb bis heute eine fundamental- protestantische Identität, nach der sich die Welt in „gut“ und „böse“ aufteilt. Nur wer sich das klar macht, kann Nordamerika verstehen. Europäer wollen diese Unterscheidung wegpolieren und kaum wahrnehmen.

Und wie halten Sie es mit diesem Weltbild?

Kornblum: Ich bin als engagierter
Protestant aufgewachsen und stehe dazu. Die Einteilung in „gut“ und „böse“ halte ich für elementar.

Als Diplomat mussten Sie doch für Ausgleich sorgen?

Kornblum: Ja, das stimmt, und es ist mir sehr gut gelungen. Aber die Frage ist: Steht der Ausgleich am Beginn, oder ist es das vorrangige Ziel, die eige- nen Interessen und Prinzipien zu vertreten? In Europa steht der Ausgleich am Anfang. Amerikaner glauben immer an eine bessere Zukunft. Europäer glauben, sie müssten die Gegenwart kontrollieren, damit die Zukunft nicht schlechter wird. Die EU funktioniert genauso. Es geht nicht darum, eine bessere Zukunft zu bauen. Vielmehr wollen die Politiker der EU eine schlechtere Zukunft oder die Wiederholung der Vergangenheit vermeiden. Das ist eine fatale Haltung.

Die Einteilung in „gut“ und „böse“ halte ich für elementar.

Kornblum: Ich bleibe dabei. Wer mit dem Kompromiss beginnt, macht etwas falsch. Friedrich von Logau, ein deutscher Dichter des Barock, hat es sehr treffend formuliert: ‚In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod‘. Das kommt von einem Deutschen.

Das wird ja immer düsterer. Machen Sie uns bitte in Europa doch Hoffnung für die Zukunft!

Kornblum: Hoffnung ist ein gutes Stichwort. US-Präsident Barack Obama hat vor einigen Jahren ein Buch mit dem Titel „The Audacity of Hope“ geschrieben. Alle deutschen Übersetzungen des Wortes „Audacity“ wie „Mut“ oder „Verwegenheit“ treffen nicht. Viel wichtiger ist aber, wie der deutsche Titel lautet: „Hoffnung wagen“. In Deutschland ist Hoffnung also ein Wagnis.

Das zeigt eine grundsätzlich unterschiedliche Haltung. Im englischsprachigen Originaltitel bringt Mut, Verwegenheit oder wie sie es auch immer übersetzen wollen, Hoffnung. In Deutschland ist Hoffnung eine gefährliche Sache.

Wenn die Angst vor der Zukunft und dem Fortschritt so dominant ist: Haben Sie eine Erklärung dafür?

Kornblum: Es ist der Erfolg. Als ich in Deutschland als Diplomat anfing, war ich seit den frühen 1970er Jahren für die Ostpolitik zuständig. Okay, ich war sehr jung und beeindruckt von Leuten wie Willi Brandt. Ich habe aber anschließend über die Jahre bemerkt, wie die nachfolgenden Politiker in Deutschland immer abgerundeter und weniger visionär wurden. Es begann mit dem Abgang der Kriegsgeneration. Danach haben die Politiker die Beamtenmentalität übernommen und die können nicht visionär sein. Deutschland ist ein verbeamteter Staat. Das ist kein ausschließlich deutsches Phänomen. In Frankreich und Italien ist es nicht anders. Ich war selbst mehr als dreißig Jahre Beamter und weiß, dass Beamte keine Visionen haben. Aber Politiker brauchen Visionen.

Beamte und Politiker verhandeln derzeit über das transatlantische Handelsabkommen „TTIP“. Halten Sie das Vorhaben für visionär?

Kornblum: Für Deutschland ist TTIP die letzte Chance, um in der ersten Liga zu bleiben. Und die Verhandlungen werden Erfolg haben. Selbst wenn das Volk mault, wird in Deutschland immer über den Bundestag von oben nach unten entschieden. Und um die vielzitierten Beispiele aus der Ernährungsindustrie zu erwähnen: Ja, die USA tun sich schwer mit dem Import von europäischem Rohmilchkäse und werden dafür von einem Großteil der US-Bevölkerung kritisiert. In Deutschland, wie in weiten Teilen Europas, weiß ein Großteil nicht, was ein sogenanntes „amerikanisches Chlorhühnchen“ ist, aber die Menschen werden deswegen in Angstzustände versetzt.

Die ängstlichen Deutschen exportieren einzigartige Technologie, wie beispielsweise im Maschinenbau, in alle Welt und die mutigen Amerikaner stützen sich bei den Ausfuhren auf Rohstoffe und Rüstung.

Kornblum: Das stimmt gar nicht. Viele amerikanische Unternehmen denken überhaupt nicht an den Export, weil sie ihn nicht nötig haben, da es einen riesigen Binnenmarkt gibt. Deutschland ist doch angreifbar, weil es keinen großen Binnenmarkt hat. Außerdem ist Deutschland mit seiner Exportorientierung angreifbar, weil die Binneninvestitionen vernachlässigt werden. Deutschland exportiert Kapital, das im Land geschaffen wurde. Dafür bekommt Deutschland dann Papiergeld. Das könnte Substanz bringen, aber das geschieht nicht, weil die Binneninvestitionen in Deutschland ständig zurückgehen. Richtig falsch liegen Sie mit Ihrer Einschätzung der amerikanischen Industrie. Alles was in Deutschland hergestellt wird, produzieren die USA ebenfalls – von Flugzeugen, Eisenbahnen und Traktoren bis zu Autos. Der größte Autobauer der Welt ist weiterhin ein Amerikaner. Wahrscheinlich, und ich betone wahrscheinlich, haben die Deutschen bei den Qualitäten der Autos einen Vorsprung, aber das ist „Overengineering“: mehr Aufwand für das Produkt, als die Kunden auf Dauer honorieren. Gut, aber viel zu teuer. Ein amerikanisches Flugzeug ist auf jeden Fall genauso sicher wie ein europäisches. Sie vergessen die amerikanische Biotech-, Medizin- und IT-Industrie. Deutschland ist ein hervorragender Produzent von Produkten aus dem 19. Jahrhundert und sehr schwach beim technologischen Übergang in das 21. Jahrhundert. Das ist nicht ausschließlich ein deutsches Problem, es ist ein europäisches, nur dass die Deutschen erfolgreicher sind.

 Deutschland ist ein verbeamteter Staat. Politiker brauchen Visionen.

Wollen Sie wirklich abstreiten, dass Deutschland und Europa bei technologischen Entwicklungen eindeutig Maßstäbe setzen?

Kornblum: Sorry, die Deutschen und die anderen Europäer sind gut in der Anwendung. Das sind so genannte „kumulative Innovationen“. Jede Maschine wird jedes Jahr ein wenig besser. Nur die Mikroelektronik, die dafür sorgt, wurde woanders erfunden. Die Zukunft Deutschlands wird ohnehin sein, Produkte aus anderen Regionen der Welt anzuwenden und zu verbreiten.

Das Volk der Dichter, Denker und Ingenieure wird zu einem Volk der Kaufleute?

Kornblum: Nein, zu einem Volk der Logistiker.

Das trifft nicht so ganz den deutschen Anspruch.

Kornblum: Logistik ist nichts Schlechtes. Ich finde Logistik faszinierend. Deutschland hat keine schlechte Zukunft. Logistik kommt der deutschen Exportorientierung und den eigenen Netzwerken entgegen. Und wenn Sie auf den Euro blicken, finden Sie dort alle Tugenden, die den deutschen wichtig sind. Mittlerweile wird das auch mit dem Begriff „Austerität“ beschrieben. Allerdings wird das Deutschland schaden. Der transatlantische Diskurs dreht sich um Wirtschaftsförderung wie in den USA oder um Haushaltsdisziplin wie in Deutschland. Ich weiß nicht, wer Recht behält, aber ich weiß, dass die US-Wirtschaft im Jahr 2014 um 3,5 Prozent gewachsen ist, 2015 werden es 4 Prozent sein. Die Ankäufe von Anleihen hören in den USA langsam auf, und wir sind wieder da: voll gesund und mit einer fantastischen Zukunft. In Europa ist es genau umgekehrt. Die nächste Rezession steht bevor.

Das Interview ist am 11.01.2016 in dem Band „Fortschritt nutzen- Zukunft gestalten“ erschienen.

Wenn deutsche Unternehmen nach Osteuropa blicken, könnten Sie durchaus Recht behalten. Das gute Geschäft mit Russland ist erstmal vorbei. Müssen Deutschland und Europa die wirtschaftliche Last des neuen Ost-West-Konfliktes tragen?

Kornblum: Wenn man es insgesamt betrachtet, ist Russland für die deutsche Wirtschaft nur Mittelmaß. Das ist eher eine emotionale Angelegenheit. Wenn man die Energie ausklammert, ist der deutsch-russische wirtschaftliche Austausch auf dem Niveau wie zwischen Deutschland und der Schweiz. Wichtig, aber nicht entscheidend. Und selbst bei der Energie sind die Russen kein zuverlässiger Partner.

Russland liefert seit Jahrzehnten absolut zuverlässig Energie nach Europa und hat das sogar während des Kalten Krieges getan.

Kornblum: Russland ist kein stabiler Partner, nicht ohne Grund suchen die Europäer dringend nach neuen Quellen.

In den USA ist das ja bereits mit dem Fracking gelungen. Hierzulande ist diese Technologie kein Thema.

Kornblum: Doch Fracking war ein Thema, aber man hat es einfach verboten. Das ist wie mit den gentechnologisch veränderten Organismen. Die Technologiefeindschaft ist ein Riesenproblem Deutschlands. Die Energiewende wurde ohne Diskussion mit der Bevölkerung und der Energiewirtschaft durchgezogen. Keiner weiß, ob die erneuerbaren Energien überhaupt etwas bringen. All das ist undemokratisch und zeigt: Deutschland ist in einer Verwirrung. Die alte Stabilität ist weg. Man hat aber nicht den Vorteil wie in den USA, einfach etwas auszuprobieren und wenn es nichts bringt, verwirft man es wieder. In Deutschland muss alles stabil Schritt für Schritt gehen. Weder die Politik noch die Medien sind in der Lage, die technischen, wirtschaftlichen und politischen Optionen klar zu definieren.

Bei der Energie sind die Russen kein zuverlässiger Partner.

Erkennen die Medien die Optionen nicht oder werden sie davon abgehalten?

Kornblum: Vielleicht beides. In Deutschland und Europa gibt es eine bekennende Publizistik mit klaren Standpunkten, die verteidigt werden müssen. Es existiert zwar eine ganze Reihe von Standpunkten, aber auch da herrscht der Wunsch nach Stabilität: Wir müssen unser Bekenntnis bewahren. Der Wunsch nach Stabilität ist das durchgehende Prinzip der deutschen Gesellschaft.

Dienst der Vereinigten Staaten begann er 1964, „nach einer sechsmonatigen Ausbildung und nicht nach zwei demotivierenden Jahren wie in Deutschland üblich“, am Konsulat in Hamburg.  Kornblum hat an der Michigan State University Politikwissenschaften und Deutsch studiert.

Während des Kalten Krieges war der überzeugte Protestant seit Ende der 1960er Jahre in unterschiedlichen Positionen als Diplomat an Verhandlungen zwischen Ost und West beteiligt. Kornblum hat während der Teilung Deutschlands unter anderem in Bonn und Ost-Berlin gearbeitet.

Historische Leistungen hat Kornblum in Wort und Tat erbracht: „Mister Gorbatschow, tear down this wall“, forderte der damalige US-Präsident Ronald Reagan 1987 während seiner Rede an der Berliner Mauer. Der Satz im Manuskript stammt von Kornblum.  Das Abkommen von Dayton zur Beendigung des Bosnienkrieges entstand unter maßgeblicher Beteiligung des US-Diplomaten.

Ergänzend zum klassischen diplomatischen Dienst hat Kornblum die USA bei der Nato in Brüssel und der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vertreten.

Nach Ende seiner Dienstzeit als US-Botschafter in Berlin (1997 bis 2001) übernahm  Kornblum von 2001 bis 2009 den Posten des „Chairman Deutschland“ der Investmentbank Lazard. Seit 2009 berät er die internationale Wirtschaftskanzlei Noerr.  Kornblum ist Vorsitzender des 2013 gegründeten „John F. Kennedy Atlantic Forum“. Die Organisation fördert den transatlantischen Austausch in Politik, Kultur und Wissenschaft.  Kornblums Großvater war Farmer in Michigan. Darauf ist der pensionierte Diplomat „sehr stolz“.
John Kornblum