Skip to main content
Muss das Erntedankfest entstaubt werden oder ist gerade der traditionelle Rahmen gut und richtig?

Raoul Löbbert: Ich glaube schon, dass das Erntedankfest vorsichtig entstaubt gehört, auch wenn man mit Traditionen generell pfleglich umgehen sollte. Die Technisierung der Landwirtschaft hat dazu geführt, dass die meisten Menschen Gemüse nur noch aus dem Supermarkt und Fleisch aus der Folie kennen. Was es bedeutet, zu pflanzen, zu füttern, zu pflegen, zu ernten und zu schlachten wissen heute die wenigsten.

Deshalb reicht es nicht, dass das Erntedankfest das Wachsen und Gedeihen feiert, es muss auch dafür sensibilisieren, was das genau heißt. Zu Erntedank ergehen sich viele Predigten in Appellen an die Landwirtschaft, die Schöpfung zu bewahren und nicht für den schnöden Mammon auszubeuten. Ein solcher Appell ist nie ganz falsch und nie ganz richtig. Über der hehren Absicht sollte man eines aber nicht vergessen: Der Bauer ist der Schöpfung nicht entgegengestellt, sondern ein Teil davon.

Raoul Löbbert

Redaktionsleiter von Christ und Welt

Raoul Löbbert ist Redaktionsleiter von „Christ und Welt“, der „Extraseiten für Glaube, Geist und Gesellschaft“ in der Wochenzeitung Die Zeit. Er wuchs in einem Dorf im Bergischen Land auf und kennt die Situation vieler Landwirte aus eigenem Erleben. Den Landwirten rät Löbbert ihre Interessen selbstbewusster zu vertreten.

Wenn es immer weniger Kirchgänger gibt: Was halten Sie davon, das Erntedankfest häufiger als bislang auf öffentlichen Plätzen zu begehen?

Löbbert: Eine gute Idee, gerade weil das Erntedankfest zunehmend aus dem öffentlichen Bewusstsein schwindet. Davon abgesehen: Kirche ist kein Panic Room, in dem die Menschen geschützt vor dem Unglauben der Welt mit Gott kommunizieren. Kirche kann, soll und muss überall sein. Warum also nicht auch auf einem Marktplatz?

Kritik an der modernen Landwirtschaft gehört fast schon zum Ritus des Erntedankfestes – viele Landwirte sehen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Wie soll die Kirche damit umgehen und was raten Sie den Landwirten?

Löbbert: Sich der Kritik zu stellen und ihr die eigene Position selbstbewusst entgegenzusetzen, statt beleidigt zu sein. Es ist ja nicht so, dass Kirche keinen Streit verträgt. Dass viele Landwirte sich zu Unrecht an den Pranger gestellt fühlen, hat vielleicht auch damit zu tun, dass sie ihre Belange in der Öffentlichkeit noch zu leise vertreten. Damit meine ich nicht, dass man einem Priester eine Ladung Mist vor die Tür kippen sollte, wenn er vermeintlich Mist erzählt, sondern reinzugehen in die Kirche und das Gespräch zu suchen.

Ganz so schlecht gerüstet für den öffentlichen Diskurs sind die Landwirte übrigens gar nicht: Sie säen und ernten – beides Tätigkeiten, die bibelbeglaubigt und gottgefällig sind.

Das Interview führte Dietrich Holler, vox viridis, Berlin